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Stadtgeschichte erlebbar machen – Archäologie der Gegenwart im Kreativquartier Hamm.Mitte

Das Ruhrgebiet ist ein spannender Ort des Wandels – und das schon seit Jahrzehnten. Warum also nicht einmal das Vergangene mit dem Neuen auf unkonventionelle Weise verknüpfen? Im interdisziplinär angelegten Projekt „Archäologie der Gegenwart“ trifft die Stadtgeschichte Hamms auf die noch weitestgehend unerschlossene Welt der virtuellen Realität. Im vielversprechenden Rahmen eines ganz besonderen Stadtrundgangs.

© Sebastian Becker/ecce
Pionierarbeit zwischen Stadtarchiv und virtuellem Raum

Alles beginnt mit der Idee, den rasanten Strukturwandel im Ruhrgebiet von der postindustriellen Gesellschaft zur digitalen Moderne in seinen verschiedenen Schichten sichtbar zu machen. Die Initiatoren Klaus Neuburg und Prof. Dr. Sebastian Pranz und sein Team von Froh! Labs haben bereits ein ähnliches Vorhaben als Buchprojekt in Georgien durchgeführt, nun wollen sie einen Schritt weitergehen: ursprünglich mit einem digitalen Archiv – doch dann fasziniert der Gedanke, mittels Augmented Reality direkt im Stadtraum zu agieren. Immerhin wird die Vergangenheit dadurch nicht bloß sicht-, sondern auch erlebbar. Und der noch weitestgehend unerschlossene virtuelle Raum bietet Gelegenheit für echte Pionierarbeit.

In Gesprächen mit AkteurInnen und Instanzen der Region kommt schließlich die Stadt Hamm und hier insbesondere das Kreativ.Quartier Hamm.Mitte als Zielort ins Gespräch – ein Glücksgriff, wie sich bald zeigt: Ute Knopp vom hiesigen Stadtarchiv fängt sofort Feuer für das Vorhaben und ermöglicht den Beteiligten gerne den vollen Zugang für die Recherche. Das gilt für ein breit aufgestelltes Team, denn das Projekt ist angelegt als Workshop, in dem Studierende aus verschiedenen Fachrichtungen und Städten mit ihrer Arbeit sinnvoll ineinandergreifen können. Die TeilnehmerInnen kommen von der Hochschule Hamm-Lippstadt aus dem Bereich Computervisualistik und Design, von der Hochschule Darmstadt mit dem Fokus Journalismus und von der Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt Fotojournalismus.

 

In drei Schritten von der Geschichte in Richtung Zukunft

Der erste Schritt des Workshops ist eine Woche intensiver Recherche in den Spuren der Vergangenheit, um eine breite Basis für die weitere Umsetzung zu schaffen. Die Studierenden erkunden das städtische Umfeld, führen Interviews mit den Menschen vor Ort und verbringen viele Stunden der Forschung im Stadtarchiv. Dabei eröffnen sich sehr vielfältige Storys: von der wegrationalisierten Straßenbahn über den Wandel des Bahnhofvorplatzes und das Verschwinden des Horton-Kaufhauses bis hin zum Westentorbunker, der als wichtiger Schutzpunkt im Zweiten Weltkrieg eng mit dem Schicksal der Hammer Bevölkerung verbunden ist. Alte Fotos und auch Werbeplakate zeugen auf vielfältige Weise vom Umbruch der letzten 70 Jahre und im Archiv treffen die Studierenden zufällig auf jenen Mann, der als letzter Braumeister für die Biermarke Isenbeck von den Veränderungen in der Branche zu erzählen hat. In nur einer Woche kommt vieles zusammen und daraus entwickelt sich langsam ein Gesamtbild vom Wandel der Innenstadt und ihrer BewohnerInnen.

Verknüpfungen zwischen Jetzt und Vergangenheit schaffen

Der zweite Schritt gilt der Gegenwart: Die Stadt wird noch einmal mit dem Blick des Kurators erkundet, um geeignete Anknüpfungspunkte zur Vergangenheit zu finden. Im Zuge eines innovativen Stadtrundgangs soll der virtuelle Raum an verschiedenen Orten mit Zeitgeschichte besetzt werden – in Form von alten Bildern, Interviews im Video- und Audioformat und natürlich auch in Form von Rekonstruktionen. Das Team ist begeistert von den Erfolgen, die sich einstellen, als es an den dritten Schritt der technischen Umsetzung geht: als z.B. das virtuelle Modell der ehemaligen Straßenbahn tatsächlich gelingt und man sie nun mittels Augmented Reality wieder vor dem Bahnhof entlangfahren sehen kann. Aus der lang erdachten Theorie neuer Erzählweisen wird erlebbare Praxis. Die Verbindung zwischen Stadt und virtuellem Raum funktioniert dabei über sogenannte Bildmarker, die über eine Kamera von der selbst entwickelten App erfasst werden und so an der gewünschten Stelle eine Visualisierung auf dem Bildschirm sichtbar machen. Diese Marker können extra platziert werden, aber auch Graffitis oder markante Logos eignen sich perfekt dafür. Betrachtet wird über Tablets, die leihweise zur Verfügung gestellt werden. Die kostenintensiven AR-Brillen dürfen Besucher in einem kleinen Ausstellungsraum ausprobieren.

 

Der Einsatz hat sich gelohnt – in vielerlei Hinsicht

Am Morgen der ersten öffentlichen Präsentation sitzt das Team noch aufgeregt an den letzten technischen Details. Aufgrund von Schwierigkeiten mit der App ist noch nicht die gesamte Führung verfügbar, doch die ersten BesucherInnen erkunden bereits neugierig die vorhandenen Spots. AkteurInnen des Stadtgeschehens und aus dem Kreativ.Quartier sind da, aber auch eine Gruppe aus Soest, die ein ähnliches Projekt entwickelt. Man tauscht sich aus und schafft eine Grundlage für eventuelle Kooperationen in der Zukunft. Die Arbeit hat sich gelohnt: Zum einen wurden mit der Vielfalt der Eindrücke und auch der Präzision der 3D-Modelle die Erwartungen eindeutig übertroffen, zum anderen war das Projekt gerade für die Studierenden eine dankbare Gelegenheit, um sich außerhalb des gewohnten Kontextes kreativ und interdisziplinär auszutoben. Nun bleibt zu hoffen, dass der virtuelle Stadtrundgang dauerhaft erhalten bleiben kann und Interessierten dann direkt über eine App zur Verfügung steht. Man ist im Gespräch, um entsprechende Möglichkeiten zu schaffen. Darüber hinaus könnte das Projekt auch zur Initialzündung für weitere Vorstöße in den virtuellen Raum werden. Prof. Pranz sieht die bisherige Arbeit wie eine Probebohrung: Man setzt an einer Stelle an und erweitert schließlich das betrachtete Gebiet. Es ist also durchaus denkbar, dass künftig auch in anderen Städten ähnliche Projekte starten.

Text: Marius Hanke

Fotos: Sebastian Becker