Alle geförderten Projekte

| News, Kreativ.Quartiere Ruhr, Witten

Ein Viertel für's Ganze

Eine inszenierte Reise durch das Wittener Wiesenviertel.

© Serkan Akin/ecce

„Kommen Sie! Kommen Sie!“ schallt es energisch durch die Wittener Innenstadt. Ein Tross von etwa 30 Menschen bewegt sich durch die Straßen. Vorneweg, winkend und schnellen Schrittes – ein junger Mann in grauem Anzug sowie ein älterer Mann in rötlicher Samtjacke, der wie ein genervter Studienrat wirkt. Passanten und AnwohnerInnen bleiben stehen oder schauen sich erstaunt um. Eine Sightseeing-Tour durch Witten? Sind das etwa Touristen? Und wer sind die schicken jungen Männer, die im Vorfeld durch die Straßen laufen, auf einer Kreuzung den Verkehr regeln oder aus Hofeinfahrten spähen? Was ist da los?

„Ein Viertel für's Ganze“. Das ist los. Eine inszenierte Reise durch das Wiesenviertel, ein Theaterprojekt auf den Straßen des Kreativ.Quartiers, eine gemeinsame Expedition durch die Nachbarschaft. Entwickelt von der „Projektfabrik gGmbH“ in Witten und seinem FREDERICK Ensemble, gefördert durch die Kurt & Maria Dohle Stiftung. Das aktuelle Projekt wird vom Programm „Kreativ.Quartiere Ruhr“ des Landes NRW unterstützt. FREDERICK arbeitet mit jungen Menschen unter 30 Jahren, die bisher orientierungslos im Leben standen oder die sich, nach ihrem Schulabschluss, vor neuen Herausforderungen sehen. Ihnen sollen mit der gemeinsamen, künstlerischen Arbeit Räume zur Persönlichkeitsentwicklung eröffnet werden. Langzeitarbeitslosen Menschen individuelle Wege zur Berufsfindung zu ermöglichen – das ist das Ziel, mit dem die „Projektfabrik gGmbH“ als Bildungsträger im Jahr 2005 gegründet wurde und seit 13 Jahren bundesweit und im europäischen Ausland entsprechende Projekte durchführt. Bisher sind vom FREDERICK Ensemble Kindertheater-Inszenierungen und das erfolgreiche „Faust-Projekt“ auf die Quartiersbühne des „Roxi“ gebracht worden.

Für „Ein Viertel für's Ganze“ hat man nun den geschützten Raum des Theaters bewusst verlassen. Mit Regisseur Matthias Hecht wurde das Wiesenviertel gemeinsam erforscht. Die Proben fanden öffentlich auf den Straßen statt; neue Kontakte zu den AnwohnerInnen und Geschäftsleuten wurden geknüpft. Das aktuelle Ensemble aus Geflüchteten, Schulverweigerern und betreuten Jugendlichen habe sich neu zusammengefunden, um das Viertel und sich selbst sichtbar zu machen, sagt Berit Schürmann aus dem Leitungsteam der „Projektfabrik“. Und weiter: „Jeder Teilnehmer entdeckt sich und seine Fähigkeiten, die bisher nicht zum Ausdruck kamen, neu.“

Publikum und Ensemble treffen am Sackträgerbrunnen aufeinander. Sieben junge Männer in Anzügen lehnen lässig an der Brüstung, ein paar Schritte entfernt steht eine Saxophonistin, die warme Klänge durch die Abendluft schickt. Nachdem sich der junge Mann und der Herr in der roten Samtjacke einig sind, wer hier das Sagen hat, stürmen die sieben Jugendlichen plötzlich die Straße hinunter. Das Publikum setzt sich ebenfalls in Bewegung – „Kommen Sie bitte!“ – und streift auf dem Weg die Boutique „Rosenrot“, vor der zwei Schauspieler als Liebespaar sitzen, das sich unentwegt anschaut. Einige Meter weiter lugen die Anzug-Jungs bereits ungeduldig um die Ecke. Idyllisch ist es hier, auf dem Platz zwischen dem Café „knut's“ und einem griechischem Restaurant plätschert ein Brunnen, in den Bäumen hängen alte Lampenschirme, auf Hochbeeten wird Urban Gardening betrieben.

In der gegenüberliegenden Hofeinfahrt regt sich etwas. Ein einsamer Trommelschlag ist zu hören, dazu Affenrufe. Der Hof verwandelt sich in einen Zoo. Einer der Schauspieler hockt hinter einem Geländer wie hinter Gittern, ein anderer teilt Tüten mit Futter-Nüssen aus, die aber vom „Affen“ weggeworfen werden. Das ruft einen Straßenkehrer in orangefarbener Latzhose auf den Plan, der sich erst aufregt, dann aber die Tüten einsammelt und ebenfalls zum Ensemble gehört. Das ist der Reiz dieser inszenierten Reise durch den urbanen Raum – die unerwarteten Begegnungen und Situationen, bei denen der ZuschauerInnen sich fragt, ob die Person jetzt zum Stück gehört oder zufällig vorbeikommt.

„Ein Viertel für's Ganze“ lebt von solchen Überraschungen und originellen Ideen – selbst die Einheimischen können so ihr Viertel neu entdecken. Etwa, wenn aus einer Personengruppe, die sich auf einer Wiese sonnt, plötzlich ein Chor wird, der mit dem Publikum Lieder und Kanons singt. Die TeilnehmerInnen werden dann selbst zu einem Teil des Ensembles, um am Ende den Applaus von den umliegenden Balkons entgegen zunehmen. Oder die Idee, einen Sandkasten zum angeblich größten verfüllten Schlagloch Wittens zu machen, in dem nach einem historischen Schatz gebuddelt werden soll. In einem weiteren Hinterhof erklärt eine junge Frau mit Megaphon einen runden Teerflecken kurzerhand zum Planeten Erde, lässt einige TeilnehmerInnen als Sonne, Mond und Komet um die Erde kreisen („Nicht auf die Ozonschicht treten!“), um schließlich auf ein paar winzige Grashalme zu deuten, die sich durch den Teer gekämpft haben: „Und wissen sie was das ist? Das ist unser wunderschönes Wiesenviertel!“

Das frische Grün in karger Umgebung ist ein passendes Bild für das Wiesenviertel, für dessen AnwohnerInnen und AkteurInnen. „Ein Viertel für's Ganze“ schafft dabei neue Perspektiven für alle. Gerade auch für die Jugendlichen aus dem Ensemble, die so Kontakte knüpfen und Dinge kennenlernen können, zu denen sie bisher keinen Zugang hatten. Kunst und Kreativität schafft neue Möglichkeiten.

Am Ende der Theaterreise stehen ein Mini-Konzert und viel Licht auf dem Programm. Letzteres stammt vom Schwerter Lichtkünstler Jörg Rost, der zusätzlich zu den Vorstellungen Teile des Kreativ.Quartiers farbig in Szene setzt. Das Wiesenviertel leuchtet – auf ganz besondere Weise.

 

Weitere Vorstellungen: 30.6. 2018 und 1.7. 2018, jeweils 19:30 Uhr. Tickets sind für 12.- € (Schüler / Studenten ermäßigt 6.- €) im „[….] raum Café“ in der Wiesenstraße 25 erhältlich. Die Lichtkunst von Jörg Rost ist bis zum 29.6. 2018 zu sehen – kostenlos, ab der „Blauen Stunde“ bis Mitternacht.

 

 

Text: Volker K. Belghaus

Fotos: Serkan Akin